Richard Powers’ neunter Roman Das Echo der Erinnerung (Originaltitel The Echo Maker) aus dem Jahr 2006 erzählt die Geschichte eines Unfallopfers, eines jungen Mannes aus Nebraska, der nach schweren Kopfverletzungen seine nächsten Angehörigen nicht mehr erkennt. In seiner Verzweiflung entwickelt er Erklärungen für eine Welt, die ihm in entscheidenden Details plötzlich als Fälschung erscheint.
Das Buch wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet.
Inhalt
Der 27-jährige Mark Schluter gerät mit seinem Pick-up auf schnurgerader Straße aus unerklärlichen Gründen ins Schleudern. Erst Stunden später schweißt ihn die von Unbekannten alarmierte Feuerwehr aus dem Wrack. Nach langem Koma erwacht er, hat aber keinerlei Erinnerungen mehr an den Unfall. Reifenspuren weiterer Wagen am Unfallort und eine geheimnisvolle Nachricht geben der Polizei Rätsel auf. Aufopfernd gepflegt von seiner Schwester Karin und der attraktiven Schwesternhelferin Barbara findet Mark mühsam ins Leben zurück. Sein Gehirn scheint aber unheilbar geschädigt; er zeigt Symptome des Capgras-Syndroms, einer seltenen psychischen Erkrankung, bei der nahe Lebensgefährten als durch identisch aussehende Doppelgänger ersetzt erscheinen. Marks Krankheit zieht den berühmten Neurologen Gerald Weber an, der sich für Mark als Fallstudie für seine nächste Publikation interessiert. Aus der verzerrten Perspektive des Kranken, der immer stärker paranoide Wahnvorstellungen entwickelt, und der medizinischen Sicht des alternden Wissenschaftlers entwickelt sich ein kritischer Blick auf die infantile und zugleich zerstörerische amerikanische Lebenswelt.
Der Roman konfrontiert dieses zeitgenössische Geschehen mit einem archaischen Ereignis, dem Vogelzug der Kanadakraniche, die seit Jahrtausenden in der Region um den Platte River bei Kearney einige Wochen Station auf ihrem Zug nach Alaska machen. Für diese Spezies werden die Menschen zur Gefahr, immer weiter sinkt der Wasserspiegel des Platte River, der den Vögeln auf ihrem Weg Rastplatz und Nahrung bietet. Die Personen der Handlung werden in die umweltpolitischen Auseinandersetzungen verwickelt. Marks verkannte Schwester Karin nimmt sowohl ihre frühere Beziehung mit dem Umweltschützer und Leiter der Kranichstation Daniel als auch mit dem Vertreter eines Immobilienprojekts, das von den Kranichen profitieren will und zugleich ihre Welt gefährdet, wieder auf.
Nach diversen vergeblichen Rettungsversuchen der Ärzte richtet sich Marks Hoffnung zunehmend auf die Klärung des Unfallhergangs. Immer wieder versucht er herauszufinden, ob und wie die Menschen seiner Umgebung an dem Unfall beteiligt waren. So absurd dieser Gedanke eines psychisch Kranken anfangs auch wirkt, er gewinnt doch immer mehr an Kontur. Anscheinend waren seine besten Freunde irgendwie am Unfall beteiligt. Auch die Schwesternhelferin Barbara scheint plötzlich verdächtig. Nach einem Suizidversuch Marks öffnen sich die Menschen, die Wahrheit tritt ans Licht, Lebenslügen zerbrechen. Am Ende entwickeln sich für Mark Heilungsperspektiven; der anfangs so selbstgewisse Neurologe zerbricht an den erschreckenden Einsichten in die Komplexität der menschlichen Psyche.
Themen
Über weite Strecken reflektiert der Roman das menschliche Ich, das Bewusstsein als höchstes Produkt der Evolution. Aus der Perspektive des berühmten Neurowissenschaftlers wie aus den verzerrten Wahrnehmungen des Kranken erscheint die Einheit unserer Wahrnehmungswelt immer stärker als zweifelhaft.
Marks analytisches Denken funktioniert auch nach dem Unfall, seine Erkenntnisse sind aber nicht mehr an die passenden Emotionen gekoppelt. In dieser irritierenden Situation sucht sein Ich nach „logischen“ Erklärungen: Wer ist diese Frau, die seiner Schwester so sehr ähnelt, ihn aber emotional völlig kalt lässt? Sie kann nur eine ungeheuer raffinierte Replikation sein. Wer aber hat die Macht, solche Manipulationen durchzuführen? Welche Interessen stecken dahinter? Es entwickelt sich eine paranoide Welt von Verschwörungstheorien, die aufgrund ihrer eiskalten Logik auch die Menschen um Mark Schluter zunehmend verunsichert.
Der Roman beginnt ca. ein halbes Jahr nach den Anschlägen vom 11. September am 20. Februar 2002 und erzählt die Zeit bis zum Irakkrieg. Erfasst die Paranoia zunächst nur den Kranken, so scheint nach und nach das gesamte Land von Angst und Hysterie geprägt. Marks bester Freund meldet sich freiwillig zur Nationalgarde und wird schließlich in den Irak geschickt, allgegenwärtig sind die Fernsehbilder von Krieg und Gewalt. Powers Roman vermeidet eine konkrete Parteinahme, tendiert aber zu fundamentaler Kulturkritik. Die zivilisatorische Entwicklung wird zur Gefahr für die gesamte Menschheit, was vor allem durch die immer neue Konfrontation mit dem urtümlichen Leben der Kraniche verdeutlicht wird. Powers sieht in Terror und Gewalt „etwas von politischem Capgras“. Der Roman prophezeit düster das Aufleben der Natur – lange nach dem Untergang der Menschheit.
Ein anderes Thema des Romans sind die Menschen in Kearney, Nebraska, dem geografischen Zentrum der USA. Geschildert werden eher kleine Leute, Schlachthofarbeiter wie Mark und seine Freunde, Krankenschwestern, Pionierdarsteller, kleine Büroangestellte wie Marks Schwester Karin, Erfolglose. Die große Welt ist hier nur auf der Durchreise zu Gast oder im allgegenwärtigen Fernsehen. Autofrisieren, Computerspiele, ärmliche Häuser von der Stange. Das wirkliche Leben ist anderswo – wenn da nicht die Kraniche wären. Dennoch zielt Powers hier auf das Zentrum Amerikas, auf Nationalismus und Vorurteile, auf Identitätsverlust, Intrigen und Existenznöte.
Form
Die Süddeutsche Zeitung war der Ansicht, Powers’ Buch sei nicht nur ein Roman, sondern „ein wissenschaftliches Werk über die Neurologie der Unfähigkeit, sich selbst als Ich, den Nächsten als Du und die Gesellschaft als Versammlung in sich selbst einheitlicher und einheitlich bleibender Individuen wahrzunehmen. Es ist eine exakte, überaus anschauliche Bestandsaufnahme des Segens und des Unglücks, die über den Menschen kamen, als er lernte, den Stoff zu erkennen, aus dem sein Selbst gemacht ist – und dieses Unglück ist ins Unermessliche gewachsen, seitdem er, in immer wieder überraschend hohem Maß, selbst entscheiden kann, was mit seinem Ich geschieht, auch in Gestalt von Operationen und Medikamenten. Daher ist das Buch auch ein philosophisches Werk über die Grundfrage des modernen Menschen: darüber, was ihn seelisch überhaupt zusammenhält. Und das alles geschieht, erstaunlich genug, ohne Verlust an Spannung und literarischer Kraft.“
Der amerikanische Titel The Echo Maker hat eine doppelte Bedeutung. In der Sprache der Indianer bezeichnet er die Kraniche und ihren Ruf. Er bezeichnet aber auch die Echos der Erinnerung, die unser Ich formen und prägen.
Enthält der Titel schon den Grundkonflikt zwischen gefährdeter Natur und dem fragilen Ich des Menschen, so entwickelt Powers die fünf Teile seines Buches aus den Zeilen eines geheimnisvollen Zettels, den Marks Schwester Karin am Bett des bewusstlosen Bruders findet:
- Teil 1: „Ich bin Niemand “
- Teil 2: „aber Heute Nacht auf der North Line Road“
- Teil 3: „führte GOTT mich zu dir“
- Teil 4: „damit Du Leben kannst“
- Teil 5: „und jemand anderen zurückholst“
Richard Powers’ komplexe Erzählung um Wissenschaft, modernes Leben und archaische Natur wird größtenteils aus der Perspektive der Schwester Karin geschrieben. Aber es gibt auch Passagen, in denen die Geschichte aus der Sicht des Arztes Gerald Weber oder des Patienten Mark Schluter erzählt wird. Dabei sind die Gedanken des Kranken für den Leser zwangsläufig am wenigsten nachvollziehbar und scheinen absurd. Trotz des verschlungenen Plots behält der Roman den Charme mündlichen Erzählens.
Powers erzeugt Spannung. Seine Auseinandersetzung mit den Tiefen der menschlichen Psyche ist eingebunden in eine dramatische Handlung, die sich zusehends zuspitzt. Margaret Atwood vom New York Review of Books meint deshalb, man müsse das Buch zweimal lesen, da man beim ersten Durchgang, hingerissen vom Sog der Erzählung, viele Details überlese. Durch die Forschungen nach der Ursache des verheerenden Unfalls trägt der Roman nicht nur Züge eines Psycho- und Politdramas, sondern es entstehen auch Effekte des Kriminalromans.
Rezensionen
Powers Roman wurde von der angelsächsischen Presse überwiegend begeistert aufgenommen. Die Kritikerin des New York Review of Books, Margaret Atwood, schreibt humorvoll, Powers bekomme Kritiken, für die andere Schriftsteller ihre Großmutter umbringen würden. Allgemein gelobt werden seine Bildung und sein Intellekt, die Fähigkeiten, komplexe Themen verständlich aufzuarbeiten.
- „Das Echo der Erinnerungen ist ein großartiger Roman – großartig in seiner Reichweite, großartig in seinen Themen, großartig in seiner Gestaltung. Dass er vielleicht manchmal die Grenze zum Bombastischen überschreitet ist vielleicht unvermeidbar: Powers ist kein Miniaturenmaler.“
Auch Patrick Ness findet in seiner Rezension I am No One im Guardian lobende Worte:
- „The Echo Maker turns out, happily, to be Powers’ most accessible novel to date, showing an ever-increasing skill at marrying his titanic smarts to plots that move and breathe. It is, as so many of his novels are, a story about the terrible flexibility of identity. “
- Das Echo der Erinnerung erweist sich glücklicherweise als Powers’ bis heute zugänglichster Roman. Er zeigt die wachsende Fähigkeit, seine titanische Klugheit mit Plots zu verbinden, die atmen und leben
Ness sieht in den Kranichen die zentrale Metapher des Buches. Sie verkörperten den ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt und archaischem Gedächtnis. Entgegen der Zerbrechlichkeit der menschlichen Erinnerungen riefen sich die Kraniche über die Jahrtausende, wie eine alte Cherokee-Weisheit behaupte. Sie verfügten über die sichere und instinktive Fähigkeit zur Wiedererkennung, die Mark Schluter fehle.
Die deutsche Literaturkritik urteilte differenzierter. Tanya Lieske sprach in ihrer Rezension in der Zeit von einem „völlig neuen Romantyp“, einer Kreuzung der „Gehirnforschung mit dem Gegenwartsroman“ und sieht das durchaus nicht nur positiv:
Für Lieske sind die besten Passagen des Romans die dichten Schilderungen der Kraniche, ein ruhender Pol im Redestrom des Romans mit seinen zahllosen Verästelungen und Einsprengseln.
Peter Körte bemängelt in der FAZ unter dem Titel Die Kraniche des Pfiffikus Powers’ ausladende Schilderungen, die unnötigerweise stets mit einer Zusammenfassung endeten, es fehle ihnen die Schärfe eines Don DeLillo. Die Story leide zudem unter der übergroßen Bedeutungslast.
So wirkten seine Figuren teilweise holzschnittartig und typisiert. Karins alter und neuer Geliebter Daniel etwa sei ausschließlich Umweltschützer und Gutmensch aus der Provinz, Karin „kaum mehr als die leidende Opferfrau“. Der Neurologe Gerald Weber sei so unverkennbar Oliver Sacks, „daß er eigentlich seine Frau mit einem Hut verwechseln müßte“. Weber bestimme dabei die Perspektive des Erzählers, die Provinzler aus Kearney erschienen zunehmend als Fallbeispiele für psychische Störungen.
Text
- Richard Powers: Das Echo der Erinnerung. Originaltitel: The Echo Maker. Übersetzung Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-059022-8.
Literatur
- Marco Stahhut: Der schlaueste Schriftsteller der Welt: Interview mit Richard Powers. In: Welt Online, 26. November 2006
- Margaret Atwood: In the Heart of the Heartland. In: The New York Review of Books. Volume 53, Number 20, 21. Dezember 2006
- Tanya Lieske: Letzte Zuflucht an der Biegung des Flusses. In: Die Zeit, Nr. 3/2007
- Peter Körte: Die Kraniche des Pfiffikus. So schreibt der Streber: Richard Powers versiebt seinen Roman. In: FAZ, 4. Dezember 2006
Weblinks
- Rezensionsnotizen bei perlentaucher.de
- Brigitte Neumann: Rezension (Memento vom 31. März 2009 im Internet Archive) bei NDR-Kultur
- Gertrud Lehnert: Rezension beim Deutschlandradio
- Rezension im Guardian
Einzelnachweise und Anmerkungen




